1999, am Tag
des Amoklaufs von Littleton, war ich selbst 16 Jahre alt, nur ein Jahr jünger als Eric Harris
und Dylan Klebold. Ich hatte meine „ich hasse die Welt, das Leben ist scheiße“-Phase der Pubertät
gerade hinter mir gelassen und steckte in einer Beziehung mit meiner
Sandkastenliebe, die eigentlich meistnes im Off steckte, bis wir uns wieder
zusammenrauften. Die Nachricht, dass zwei Jungen an ihrer High School einen
Amoklauf durchgeführt hatten, dann Selbstmord begangen hatten und eigentlich
geplant hatten, die gesamte Schule zu sprengen, war einerseits schockierend,
andererseits verdammt weit weg von meinem Alltag (Erfurt sollte erst 2002,
unmittelbar vor meinem Abitur, stattfinden und diese Taten deutlich näher an
mich heranrücken). Und trotzdem stellte ich mir damals schon immer wieder die
Frage nach dem „Warum?“. Ähnlich muss es Joachim Gartner gegangen sein. Er nahm
Kontakt auf. Nicht zu den Eltern der Täter, nicht zu den Eltern der Opfer, sondern
zur Polizei. Nach der Abschluss der Ermittlungen erhielt er Zugang zu den
Polizeiakten, vor allem aber zu den Tonnen an Beweismaterial, das die Polizei
gesammelt hatte. Notizbücher, Tagebücher, Einkaufszettel, Schulaufsätze – alles
wild durcheinander, unsortiert und ohne Chronologie. Seine Idee: irgendwo darin
steckt sie vielleicht, die Antwort, die Eric und Dylan schuldig geblieben
waren. Er sichtete und suchte, er fand keine direkte Antwort. Aber was er fand,
war ein Zugang in die Gefühlswelt der beiden Täter, die er veröffentlichte.
„Ich bin
voller Hass, und das liebe ich“ ist ein schwieriges Buch. Nicht allein, weil es
einfach nur eine Zusammenstellung von Aufsätzen, Listen, Zitaten aus Filmen,
etc. ist – sondern vor allem, weil es nicht wertet. Weil allein der Leser die
Wertung finden muss. Weil er den Bezug herstellen muss zwischen
Gewaltphantasien in einer postapokalyptischen Welt im Aufsatz des Kurses für
„Kreatives Schreiben“ und einem realen Amoklauf in einer High School. Weil er
erkennen muss, dass die deprimierenden und traurigen Gedichte von denselben
Jungen stammen, die in Kampfmontur durch die Schulgänge ballern. Weil er keine
Antwort geliefert bekommt, sondern sie sich selbst suchen muss. Ich sitze immer
wieder gebannt vor diesem Buch und weiß absolut nicht, wie ich mich dazu äußern
soll. Es ist kein Faszinosum wie ein „True Crime“-Bestseller, sondern vor allem
eine Herausforderung. Und die sollte man annehmen.
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