Sonntag, 13. Juli 2014

[Buchgedanken] Daniel Kehlmann - Die Vermessung der Welt

Das 19. Jahrhundert ist das Zeitalter, in dem die bisher gemachten Entdeckungen vor allem kategorisiert, erforscht und weitergeführt wurden, mit dem Resultat, dass es immer neue Entdeckungen geben sollte. Auch Deutschland war in diesem Reigen beteiligt, vor allem durch zwei Männer, deren Lebenslauf Kehlmann in seinem Roman gegenüberstellt und weiterführt. Alexander von Humboldt, Sohn eines früh verstorbenen Barons, wird gemeinsam mit seinem Bruder Wilhelm schon früh in die Welt der Wissenschaften eingeführt und auf das Dasein als Forscher gedrillt. Sein Interesse für die Naturwissenschaften und vor allem die belebte Natur führt ihn schließlich auf den amerikanischen Kontinent, den er gemeinsam mit seinem französischen Kollegen Bonpland erforscht. Dabei entdeckt er Tiere, beweist quasi nebenbei, wie die Welt entstanden ist, und kommt doch nie wirklich zu einem Ziel. Ganz anders bereist Carl Friedrich Gauß die Welt. Das mathematische Wunderkind aus armen Elternhaus darf dank eines herzoglichen Stipendiums studieren, und auch wenn er die Welt draußen vor seiner Türe vor allem für gefährlich hält, gelingt es ihm alleine durch sein Zahlenverständnis immer neue Wege in die Welt zu ermöglichen. Jahrzehnte vergehen, bis die beiden ungleichen Brüder im Geiste sich tatsächlich gegenüberstehen, und dennoch scheint es zumindest in diesem Buch fast unausweichlich ...

Ich weiß gar nicht, warum ich das Buch so lange nicht gelesen habe. Als ich es jetzt schließlich mit auf eine Klassenfahrt genommen habe, war es für mich wirklich das ideale Buch, um im Zug zu lesen, immer wieder in mich hineinzulächeln und gelegentlich auch lauter zu lachen. Streckenweise erinnerte es mich sehr an "Wassermusik" von T.C.Boyle, zumindest was die Schilderungen der Fahrten von Humboldts betrifft. Wie ein großes Kind ist er von allem beeindruckt, sammelt er alles, was ihm unter die Finger kommt und bekommt doch kaum etwas von dem mit, was um ihm herum geschieht. Mit seinem Auftreten eckt er gerne an und kümmert sich wenig um den Eindruck, den er nach außen vermittelt. Die Szenen mit ihm leben von absurden Elementen, in denen meistens zwei Kulturen aufeinanderprallen - meine Lieblingsstelle ist definitiv, als er und Bonplant selig grinsend und im Vollrausch irgendwo vor einer Hütte sitzen, nachdem sie mit Curare experimentiert haben. Warum? Weil ich glaube, dass diese Forscher tatsächlich in gewissem Maße so waren, alles riskiert haben nach dem Motto "wenn ich dabei draufgehe, war es wenigstens für die Wissenschaft". Gauß dagegen ist ein fast typischer "zerstreuter Professor", an dem selbst die Geburt seines Kindes vorbeigeht. Geweint habe ich aber definitiv, als seine erste Frau stirbt, weil Kehlmann hier nur in sehr kurzen Szenen den gesamten Sterbeverlauf von zwei Tagen schildert.

Überhaupt gefiel mir am Buch am allermeisten die Sprache. Immer ein wenig distanziert, immer ein wenig verschroben und altertümlich angehaucht - was vor allem auch daran liegt, dass ein Großteil der Dialoge in indirekter Rede geführt wird. So, als würde man einen Forscherbericht lesen, das passt so hervorragend zum Buch, dass ich gar nicht langsam genug lesen konnte. Es ist diese "Dr. Livingston, I presume"-Attitüde, mit der Kehlmann die Protagonisten aber nie lächerlich erscheinen lässt. Dennoch sind sie nicht einfach nur die liebenswert-schrulligen Charaktere, die man vielleicht erwarten würde, sondern zum Teil extrem unsympathisch oder auch einfach in ihren Entscheidungen ruppig, hart oder anders, als man selbst es tun würde. Ich habe die beiden Herren gerne kennengelernt und werde definitiv wieder einmal in das Buch schauen :-)