Sonntag, 12. Juni 2011
Friedrich Torberg - Die Tante Jolesch
Es gibt Bücher, die liest man und irgendwie lassen sie einen nicht los. Sei es, dass einem Sätze immer wieder in den Kopf kommen, Bilder nicht loslassen oder man auch einfach nur den Titel nicht vergessen kann. Im Falle dieses Buches ist es der Untertitel, der mich nicht mehr loslassen will:
Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten.
Worum geht es?
Friedrich Torberg ist einer, der überlebt hat. Der Schriftsteller und Journalist floh 1938 von Prag über die Schweiz nach Amerika und entging auf diese Weise knapp dem Holocaust. Viele andere taten es nicht und diese sind es, die er in "Die Tante Jolesch" zu Wort kommen lässt. Das klingt jetzt trister und depressiver als es ist, denn in Wirklichkeit versteckt sich hinter diesem Titel eine Sammlung unzähliger Anekdoten und Geschichten aus dem jüdischen Prag und Wien, die den Leser in eine untergegangen und nicht mehr wiederherstelbare Zeit entführt. In die Zeit der Kaffeehäuser und liberalen Zeitungen, in die Zeit, als man seine Dienstleistungen noch im Hause empfing (es sei denn, man verkrachte sich mit dem Friseur - aber im Leben eines Mannes kommt irgendwann die Zeit, in der er sich entschuldigen muss oder sich außerhalb des Wohnzimmers rasieren lassen muss!) und als die Tante Jolesch noch lebte. Wobei besagte Tante ein Prototyp der unverheiratet gebliebenen Großtante ist, die in jeder Familie existiert und die mit interessanten, punktgenauen und mitunter philosophischen Aussprüchen den Anekdotenschatz der Familie anreichert.
Torberg versucht gar nicht erst, mit dem Buch einen moralischen Zeigefinger zu heben. Stattdessen erwähnt er zwar, wenn nötig, wie es seinen Protagonisten erging, vor llem aber geht es ihm darum, diese Anekdoten zusammenzutragen, die niemand mehr erzählen kann, weil niemand der Beteiligten noch lebt. Er sammelt, was er hört und wo er hört, und letzten Endes steht man als Leser dann da - mit dem Gedanken, dasss das, worüber man sich grade noch amüsiert hat, mit einer absoluten Endgültigkeit zum Ende gebracht wurde. Es ist kein hochliterarisches Werk, aber eine Sammlung von Anekdoten am Rande des Untergangs einer nie gekannten Welt - wirklich gut zu lesen, mitunter zum Loslachen und mit viel, viel Liebe und Verneigung geschrieben.
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