Vor einigen Jahren habe ich im Spiegel mal einen Artikel über ein Kunstprojekt gelesen, das mich unglaublich fasziniert hat. Es bestand aus zwei identisch gebauten Wohnungen oder Häusern, die die Betrachter auch begehen konnten. Beide waren identisch ausgestattet, der Unterscheid war, dass in einem der beiden Häuser die Kellertür zugesperrt war und Schauspieler im Hause herumliefen, eine weinende Frau in der Küche am Arbeiten war, ein Mann wortlos im Wohnzimmer saß ... Ich kann mich nicht mehr genau dran erinnern, von wem es war oder was auch immer, aber ich hatte dieses Bild immer und immer wieder im Hinterkopf, als ich gestern Nacht „Evil“ ausgelesen habe. Ihr werdet verstehen, warum, wenn ihr wisst, worum es geht …
Ende der Fünfziger Jahre. Der zwölfjährige David lebt in einer Sackgasse, die Kinder aus der Straße kennen sich und sind alle befreundet. Das Idyll der Kleinstadt der McCarthy Ära, wo die Nachbarn einander gewogen und die Fronten klar geklärt sind. Davids Nachbarn sind Ruth und ihre drei Söhne. Ruth ist anders als andere Mütter. Sie flucht vor den Kindern, sie hat immer genug zu Essen im Haus und füttert die Kinder durch, gelegentlich bekommt man ein Bier spendiert – kein Wunder, dass alle Kinder sie mögen. Eines Tages ziehen dort zwei Mädchen mit ein, Meg und ihre kleine Schwester Susan. Sie sind weitläufig mit Ruth verwandt und haben ihre Eltern bei einem Autounfall verloren. David verknallt sich in die zwei Jahre ältere Meg, die sehr still ist. Bei seinen Besuchen im Nachbarhaus wird David allerdings immer öfter unwohl-. Ruth verhält sich Meg gegenüber immer seltsamer, sie bestraft sie für kleine Vergehen und setzt sie auf eine Komplettdiät. Die Situation beginnt zu eskalieren, als Meg einem Polizisten davon erzählt – Ruth sperrt sie in den Keller und vor den Augen der andere Kinder wird Meg immer mehr zu einem Opfer von Folter. Sie wird mit Zigaretten verbrannt und mit heißem Wasser verbrüht, sie wird gequält und steht jedem zur Verfügung – nicht nur Ruth lässt ihren Sadismus an ihr aus, auch andere Kinder aus der Nachbarschaft treffen sich im Keller bei Meg. David steht dabei und obwohl er helfen will, weiß er nicht, was zu tun ist …
Das Buch ist mehr als einfach nur ein bisschen harter Tobak. Es ist kein blutiger brutaler Horror, sondern das Schlimme ist eigentlich diese langsame Steigerung im Buch, diese Spirale aus Gewalt, bei der alle mitmachen. Gruselig wird das Buch nicht durch die durchaus brutal geaschilderten Details, sondern durch die Normalität, mit der Gewal in dieser Gesellschaft akzeptert ist. Egal, ob ein kleiner Junge Regenwürmer aus purer Lust am Zuschauen an Ameisen verfüttert, Eltern ihre Kinder schlagen und jeder davon weiß oder sehr schnell klar wird, dass das beschauliche Vorstadtleben bei den meisten mehr Schein als Sein ist - in dieser Gesellschaft wird nicht drüber gesprochen. Es wird die Klappe gehalten und zugesehen, bis es eskaliert. Man könnte sich trösten, dass Jack Ketchum vielleicht einfach nur eine kranke Fantasie hat und Sadismus auslebt, allerdings ist das Buch in sehr vielen Details ein Abbild eines realen Falls, der Ermordung von Sylvia Likens durch ihre Pflegemutter. Auch hier waren Kinder mit beteiligt, auch hier existierte das Grauen hinter einer unscheinbaren Siedlungshausfassade. Damit wären wir wieder bei dem eingangs geschilderten Kunstprojekt, bei dessen Erinnerung ich immer wieder hängen geblieben bin. Und bei einem anderen Künstler, einen Fotografen, den ich ebenfalls eher zufällig bemerkt habe, und der in seinen Fotografien genau das einfängt, was ich bei diesem Buch immer wieder vor Augen hatte: Horror im Nebenhaus, vor aller Augen und trotzdem unbeachtet. Und vielleicht ist das der Grund, warum ich Kellerräume nicht mag – sie sind immer ein wenig abseits vom restlichen Haus, man kann sie so schnell vergessen lernen und ignorieren.
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