Es ist schwer vorstellbar, aber ja, auch beschauliche fränkische Städte werden mitunter zum Schauplatz von Morden und Serientätern. Anfang der Sechziger Jahre war es der "Mittagsmörder", der in Nürnberg und Umgebung zuschlug. Wobei ... so richtig das Klischee des "Mittagsmörders" erfüllt hat er erst durch die Berichterstattung in der Zeitung. Klaus G. war ein Bankräuber, Handtaschendieb, Kleinganove, der - wenn er sich bedroht fühlte - nicht zögert, loszuballern. So auch bei seiner spektakulären Verhaftung in der Breiten Gasse, wo er zunächst den Hausmeister von C&A erschoss, dann um sich schießend durch die Straße rannte und schließlich von einem beherzten Polizisten zu Fall gebracht und mti einem Regenschirm niedergeschlagen wurde... Diesen Fall haben Petra Nacke und Elmar Tannert wieder ausgegraben und widmen ihm ein ganzes Buch, das in einer sehr einfachen Form erzählt wird: als freiner Monolog. Allerdings nicht der Monolog des "mittagsmörders", sondern des (fiktionalen) Journalisten im Ruhestands, Peter Hirschmann. Als Volontär hat er den Fall damals für die Nürnberger Nachrichten begleitet und bekommt nun eine Anfrage einer Psychologiestudentin, die ihm "einige Fragen zum Themenkomplex Mittagsmörder" stellen will. Was sie genau will, erfährt der Leser im Buch nicht, denn Hirschmanns Monolog setzt ein nach Erhalt der Nachricht in der Wartephase auf die junge Dame. Dabei nimmt Hirschmann den Leser mit zurück in die Sechziger Jahre.
Das Faszinierende an dem Buch ist, dass eigentlich so gut wie gar nichts passiert. Die Taten des Mittagsmörders sind bereits vor Gericht abgeurteilt, der tatsächliche Mittagsmörder sitzt zur Zeit immer noch in Haft und soll vermutlich 2015 entlassen werden dann ist er weit über 70 und saß fast 50 Jahre hinter Gittern), Hirschmann blättert eigentlich nur durch seine alten Notizen und Zeitungsbreichte - und trotzdem konnte ich das Buch nicht weglegen. Das liegt einach daran, dass die Autoren diesen Fall ledilgich als Aufhänger nehmen für ein sehr dichtes und gut recherchiertes Psychogramm der Sechziger. Einer Zeit kurz vor den Studentenunruhen und der 68er-Bewegung, kurz vor der RAF und der Kiesinger-Ohrfeige. Eine Zeit, in der spürbar ist, dass irgendwas in der Luft liegt, in der die Vergangenheit verschwiegen wird und in der sich ein Leserbriefsturm über die Redaktion ergießt, sobald davon die Rede ist, der Täter sei Hersbrucker - schließlich ist der doch "aus dem Osten", ein Heimatvertriebener, kein Einheimischer! Überall stolpert man im Buch über das Ungesagte, das für den jungen Hirschmann nicht der Rede wert ist, weil man da nicht drüber redet. Die Verhandlung gegen den Mörder findet ausgerechnet im Saal 600 statt, dem Saal, in dem zwischen 1945 und 1948 die Kriegsverbrecherprozesse geführt wurden. Sein Argument "wenn ich sie nur mit einer Unterschrift hätte umbringen können, statt zu schießen, würde man mich nicht verurteilen" kommt einem grade in Hinblick auf den Auschwitz- und den Eichmann-Prozess sehr bekannt vor. Wenn der Anwalt die Frage stellt "was ist passiert, dass so ein junger Mann so wahnsinnige Taten begeht?", dient weniger der Entschuldigung, sondern stellt die unsichtbare Frage "wenn du in deiner Kindheit nichts als Schießen gelernt hast, was machst du dann bei Problemen?" Darüber hinaus ist das Buch erschreckend aktuell in Bezug auf Pressearbeit und Vorverurteilung - als Stichwort erinnern wir uns kurz alle an Emden - die in den Sechziger Jahren noch deutlich offensiver von statten ging, da wurde dann auch mal der neue Wohnort und der geänderte Nachname des Täterbruders erwähnt, ganz im Sinne der informierten Öffentlichkeit ...
ja, das Buch war großartig. Es ist kein Krimi, aber ein wunderbares Psychogramm, ganz ohne über die Psychologie des Täters zu sprechen.
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