Der Mörder, der nur als Jack the Ripper bekannt ist, schlägt plötzlich zu, beendet seine Serie ebenso schnell wie sie angefangen hat, und verschwindet spurlos im Dunkel der Geschichte. Bis heute beschäftigt die Mordserie, die 1889 in London mindestens fünf Frauen das Leben kostete, die Verschwörungstheoretiker. Die Zahl der Verdächtigen ist unüberschaubar, es gibt zahllose Theorien, wer es tatsächlich war. Manche sind an den Haaren herbeigezogen, andere theoretisch möglich. Und andere sind von Patricia Cornwell.
Cornwell ist eine zigfach ausgezeichnete Krimiautorin. Und hätte sie ihre Idee zur Ripper-Identität als Roman verpackt und erzählt, könnte man sagen "coole Idee, gut erzählt, kann was dran sein". Aber stattdessen entschied sie sich dazu, ein Sachbuch zu veröffentlichen und ihre Beweise offen zu legen. Und da beginnt das Problem.
Für Cornwell ist klar, dass der Ripper niemand anders sein kann als Walter Sickert. Sickert, ein Schüler des Malers Whistler, weltweit berühmt und geachtet, ist nach ihrer Überzeugung ein frauenverachtendes, impotentes, psychopathisches Monstrum, das in seinen Bildern ganz offen mit seinen Taten protzt, und dessen Entwicklung in frühester Kindheit durch eine Operation ausgelöst wurde, die ihn mindestens impotent machte, wenn nicht sogar den Penis gekostet hat.
Okay. Es gibt absurdere Annahmen zur Ripper-Identität.
Allerdings bleibt Cornwell die Beweise für diese Annahme nahezu vollständig schuldig. Das ist zum einen der Tatsache geschuldet, dass bedingt durch zwei Weltkriege und hundert Jahre Akteneinlagerung ein Teil der ein Teil der Akten einfach verloren gegangen sind. Zum anderen der Tatsache, dass Cornwell einfach alles im Zuge ihrer Theorie deutet und reinpresst und Leerstellen nach eigenem Annehmen füllt. Wie oft der Satz "ich weiß nicht, ob es so gewesen ist, aber es war so ..." in diesem Buch variiert wird, habe ich aufgehört zu zählen. Ganz klassisch im anglo-amerikanischen Beweisführungsstil wird erst einmal von der Schuld des Angeklagten ausgegangen, die er widerlegen müsste - und schlecht widerlegen kann - und immer und immer wieder redundant wiederholt: "Sickert war ein Psychopath, weil er ein Psychopath war." Cornwells Theorie stützt sich auf eher wackelige Füße.
Erstens, so die Autorin, sind ein Großteil der Ripper-Briefe von ein und derselben Person geschrieben worden, auch wenn sie sich in Sprache, Schreibstil, Handschrift und Absendeort nicht entsprechen, ja zum Teil sogar widersprechen. Das haben Analysen in ihrem Auftrag ergeben. Das wäre doch mal spannend gewesen, tatsächlich zu erklären, woran das festgemacht wird - aber nein, stattdessen knallt sie das einfach nur hin und ich als Leser habe es zu schlucken, obwohl mich die abgebildeten Briefe so gar nicht davon überzeugen wollen.
Zweitens, so die Beweisführung weiter, muss es Sickert gewesen sein, weil Sickerts Gemälde die Morde thematisieren. Auch hier fällt es schwer, das zu glauben, wenn das Bildmaterial nicht die Gemälde vorweisen kann. Das hat zur Abwechslung nich Cornwell zu verantworten, sondern in der deutschen Ausgabe dürfen die Bilder aus urheberrechtlichen Gründen nicht abgedruckt werden. Dabei wäre genau das interessant und für den Leser wichtig.
Zusätzlich zur dünnen Beweisführung krankt das Buch meiner Meinung nach an der Erzählweise, die nicht etwa chronologisch vorgeht, sondern permanent springt und nicht einmal Sickerts Lebensweg chronologisch wiederzugeben vermag. Ich springe als Leser zwischen Orten hin und her, bei denen zwanzig Jahre dazwischen liegen, Namen werden um die Ohren geknallt und dazwischen plötzlich wieder die Leben der Opfer erzählt, so weit sie sich rekonstruieren lassen. Und dann hört das Buch einfach plötzlich auf mit der Beerdigung von Sickerts zweiter Ehefrau und ich denke mir nur "Häh?"
Das Buch ist nicht einmal schlecht. Es überzeugt nicht, es ist schlampig mit Fußnoten versehen und die Quellen, die verwendet werden, sind eher willkürlich verteilt. Und das macht es zu einem hochgradig ärgerlichen Buch :-(
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