Im August 1939 wird per geheimer Reichssache in einer Zusammenarbeit von Innenministerium und Ärtztekammern eine Dienststelle geschaffen, die ihren Sitz in der Tiergartenstraße 4 hat. Die als "T4" bezeichnete Aktion hat das Ziel, von den Nationalsozialisten als "lebensunwert" empfundenes Leben zu beenden, wie es beschönigend heißt. Im Klartext bedeutet das, Menschen streng utilitaristisch nach ihrer Nutzbarkeit zu betrachten und Behinderte und Kranke zu ermorden. Dabei wird der Begriff "krank" relativ weit gefasst, denn im Laufe der Zeit fallen darunter nicht nur psychisch Behinderte, sondern auch Demente, Abhängige, Kriegstraumatisierte oder schlicht Obdachlose, die sonst vom Staat versorgt werden müssten ...
Götz Aly legt mit diesem Buch eine sehr vollständige Recherchearbeit vor, die insgesamt fast 30 Jahre in Anspruch genommen hat. Er nennt, im Gegensatz zu sehr vielen bisherigen Arbeiten, die Namen der Opfer vollständig (soweit das möglich ist) und geht nicht nur auf die politischen Hintergründe ein, sondern stellt auch die Frage, weshalb - im Gegensatz zur Ermordung von Juden, Sinti und Roma - die Euthanasie im Dritten Reich bis heute kaum hinterfragt wird.
Was mich an dem Buch wahnsinnig gefesselt hat, war die Tatsache, dass Aly ein komplett anderes Licht auf diese Mordwelle wirft, indem er einfach quellenkritisch arbeitet. Die Euthanasie war keineswegs eine rein nationalsozialistische Erfindung, der Gedanke der "Erbgesundheit" durch Sterilisierung kranker Personen einerseits und z.B. gezielte Abtreibungen möglicherweise kranker Kinder andererseits wurde bereits in den Zwanziger Jahren in medizinischen Kreisen als moderner Ansatz diskutiert. Besonders überrascht hat mich die Tatsache, dass sehr viele der später dann mittelbar an T4 beteiligten Ärzte als sehr reformatorische und moderne Vertreter ihres Berufsstandes bekannt waren und z.B. innerhalb der Psychatrie Veränderungen vornahmen, die man bis dato nicht für möglich gehalten hatte. Dabei galt jedoch die Euthanasie als praktikabler letzter Ausweg für jene Patienten, die nicht behandelbar waren und wurde auch genau so in der Fachliteratur behandelt.
Noch interessanter finde ich Alys Überlegungen zur Rolle der Familien. Tatsächlich finden sich in den Quellen erschreckend viele Hinweise darauf, dass die Euthanasie nicht etwa nur ein von oben verordnetes Mittel war, gegen das man sich nicht wehren konnte. Vielmehr war, zumindest in den ersten Jahren bis ca. 1942, die Euthanasie ein stillschweigendes Angebot, das nur dann durchgeführt wurde, wenn die Familien dagegen nicht Einwand erhoben. Dies konnte zum Beispiel durch ein Verlegungsgesuch geschehen oder durch ein simples Verneinen der Frage, ob zur Behandlung auch eine risikoreiche, nahezu hundert Prozent tödliche Maßnahme gehören sollte. Die Tatsache, dass Euthanasie zwar nicht direkt offen ausgesprochen, als Mittel im Behandlungskatalog aber durchaus bekannt war, macht es vermutlich für die betroffenen Familien so schwer, sich damit auseinanderzusetzen. Denn in den meisten Fällen waren die Ermordeten Menschen, die entweder keine Angehörigen hatten oder deren Angehörige sich nach deren Einweisung in eine Pflegeanstalt nicht mehr um sie kümmerten. Die Ermordung behinderter oder ausgegrenzter Menschen betrifft nicht nur "die anderen", sondern, so Alys Berechnung, jeder vierte Deutsche hat in der Verwandtschaft einen solchen Fall - über den aber in vielen Fällen nie gesprochen wurde. Die Bestandsaufnahme, die der Autor hier im Buch durchführt, führt zu sehr unbequemen Fragen - eine starke Leistung des Buches.
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