Es gibt Bücher, die beschäftigen mich nach dem Lesen noch unglaublich lange, und ich weiß jetzt schon, dass dieses Buch dazugehören wird. "Evangeline" von D.W.Buffa ist ein Gerichtsthriller, das den Leser beim Lesen in einen GEwissenskonflikt stürzt, vor den man nie gestellt werden möchte...
Die "Evangeline" ist die modernste Segelyacht, die gebaut wurde. Sechzig Meter lang, ausgestattet mit allem technischen Schnickschnack, der sie auf Kurs halten soll, ist sie das Schiff, auf dem 27 Männer und Frauen eine Fahrt rund um Afrika unternehmen wollen. Doch schon nach wenigen Tagen kommt es zur Katastrophe: die Evangeline sinkt in einem Sturm, nur 14 Personen können sich in ein Boot retten, darunter der Kapitän Vincent Marlowe. Sie treiben in einer viel zu kleinen Nussschale über den Atlantik, nach über vierzig Tagen wird das Boot gefunden, es haben nur sechs Menschen überlebt, die völlig ausgedörrt, vom Hunger in den Wahnsinn getrieben, ins Krankenhaus gebracht werden. Und schon bald ist klar, dass die übrigen Personen nicht etwa ins Wasser gefallen sind - Marlowe hat sich entschlossen, das Undenkbare zu tun: sie haben sich von den Körpern Toter ernährt.
An dieser Stelle setzt der Roman ein. Marlowe wird des Mordes angeklagt, denn die Menschen im Schiff wurden nach und nach von ihm umgebracht. Doch tatsächlich wird nicht verhandelt, ob er getötet hat, sondern die Frage, ob er eine Wahl hatte. Selbst dann, wenn er selbst davon überzeugt war, dass es keine Rettung gibt. Selbst dann, wenn die Rettung direkt hinter der nächsten Welle hätte auftauchen können. Und ob es tatsächlich einen Punkt gibt, an dem unsere Auffassung von Barbarei die einzige Zivilisation darstellt, an die wir uns noch halten können. Und so rechtfertigt Marlowe sich nicht für sein Handeln - er versucht es nicht einmal im Ansatz. Er versucht einfach nur, seine Gegenüber klar zu machen, was der Tod tatsächlich bedeuten kann: "Es ging nicht darum, zu sterben ohne zu töten, oder zu töten und dafür ein bisschen später zu sterben. Wir würden alle sterben - da war ich mir ganz sicher. Wir würden sterben. Das was nicht die Frage. Die Frage war, wie wir sterben würden, ob wir einfach aufgeben sollten oder ob jeder von uns glaubte, die anderen könnten durch unseren Tod weiterleben. Alle, die gestorben sind, dachten, sie hätten sich freiwillig geopfert, um die anderen zu retten. Deshalb habe ich es getan, deshalb habe ich mich einverstanden erklärt, mit der grausigen Lotterie: Damit der Tod jedes Einzelnen zur Heldentat wird, sodass sein Leben einen Sinn hatte. Was wir getan haben, war nicht falsch. Falsch war nur, dass wir überlebt haben."
Dieser letzte Satz ist es, der mich seit einigen Tagen nicht mehr loslässt. Wie geht man damit um, überlebt zu haben? Wie kann man jemals wieder ein Teil der Gesellschaft werden, wenn man sich in einer Situation befunden hat, in der alles, was diese Gesellschaft ausmacht, nicht mehr gilt, nicht mehr gelten kann? Was ist grausamer? Getötet zu werden, weil man Nahrung für andere ist? Oder damit leben zu müssen, nur durch ein solches Opfer tatsächlich überlebt haben zu können? Und ich glaube, ich will darauf gar keine Antwort finden - denn ich hätte Angst davor, wie ich mich entscheiden würde...
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